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[Kwami] Ubuntu Touch - Gut oder Schlecht?

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Das erste Release von Ubuntu Touch ist da. Sujeevan Vijayakumaran gibt hier einen Überblick sowohl über die guten, als auch die schlechten Seiten von Ubuntu Touch.

Hinweis:

Dieser Artikel gehört der Kategorie Kwami an. Er spiegelt damit allein die Meinung des Autors und nicht zwingend die des ubuntuusers.de-Teams wider.

Am 17. Oktober 2013 erschien bekanntlich nicht nur die reguläre neue Ubuntu-Version 13.10 Saucy Salamander für Desktops, Laptops und Server-Systeme sondern erstmalig auch für Smartphones. Für die diesjährige Ubucon stellte Canonical zwei Nexus-4-Smartphones zur Verfügung, auf denen Ubuntu Touch lief. Da Canonical mir beide Smartphones frühzeitig zuschickte, hatte ich mehr als einen Monat Zeit, um Ubuntu Touch ausführlich zu testen. Ich nutze selbst Android, sowohl auf dem Smartphone, als auch auf dem Tablet.

In meinem Testbericht über Ubuntu Touch in drei einzelnen Teilen warf ich bereits einen ausführlichen Blick auf das System und dessen Features. Dieser Kwami behandelt grundsätzlich das Thema, ob Canonical mit Ubuntu Touch ein gut durchdachtes System auf den Markt bringt, welches insbesondere massentauglich sein soll.

Bedienkonzept

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Der Welcome-Screen von Ubuntu Touch

Im ersten Teil von meinem Ubuntu-Touch-Bericht über „Bedienung und Scopes“ ging ich schon ausführlich auf die Bedienkonzepte von Ubuntu Touch ein. Das System lässt sich grundsätzlich durch viele verschiedenen Gesten bedienen. Ziel ist es, dass man das System schnell, einfach und flüssig bedienen kann. Außerdem soll mit dem Konzept auch die Größe des Displays keine allzu große Rolle spielen, sodass sich ebenfalls ziemlich große Smartphones, sogenannte Phablets, gut bedienen lassen sollen.

Zu Beginn ist das Bedienkonzept von Ubuntu Touch sehr gewöhnungsbedürftig oder stellenweise verwirrend. Am Anfang muss man häufig aufpassen, dass man nicht ungewollt Gesten ausführt. Das gilt nicht nur für Umsteiger von Android, sondern auch für Smartphone-Einsteiger. Auf der Ubucon hatten die Besucher die Möglichkeit, Ubuntu Touch auf den Smartphones auszuprobieren. Ich konnte dabei gut beobachten, wie einige Benutzer sich zum ersten Mal mit dem System auseinandersetzten. Die wenigsten kamen dabei auf Anhieb mit der Bedienung klar. Nahezu alle Nutzer haben Gesten ausgeführt, welche sie eigentlich gar nicht ausführen wollten. Dies führte dann häufig zu einem „Was hab ich jetzt denn gemacht?“.

Die beiden Hauptgesten befinden sich auf der linken und der rechten Kante des Displays. So kann man schnell zu den Home Scopes oder zwischen den laufenden Apps wechseln. Falls man zu viele laufende Apps hat, ist dies allerdings weniger praktisch, da man sonst zu häufig die Wischgeste ausführen muss, um die richtige App zu finden. Zum Glück gibt es hierfür auf dem Application Scope einen Abschnitt, in dem die laufenden Apps aufgelistet sind. Hierfür sind dann wiederum allerdings einige Schritte notwendig.

Android-Benutzer kennen sicherlich den App-Switcher-Button in der Bedienleiste neben der Home-Taste. Wenn man beide Systeme in diesem Punkt vergleicht, merkt man zwar, dass man bei Ubuntu Touch schneller zwischen zwei oder drei Apps wechseln kann als bei Android. Bei Android wiederum lässt sich schneller zwischen Apps wechseln, wenn man mehrere Apps am Laufen hat. Praktisch unter Ubuntu Touch ist allerdings, dass man den linken Launcher schnell offen hat und auch darüber zu anderen Apps wechseln kann. Dort sieht man jedoch nicht, ob die aufgelisteten Apps wirklich am Laufen sind oder nicht. Wie man sieht, bietet Ubuntu Touch verschiedene Möglichkeiten, um zwischen laufenden Apps zu wechseln. Je nach Anwendungsfall hat der Benutzer also durchaus eine gute Möglichkeit, die passende Methode auszuwählen.

Den Unity-Launcher erreicht man über die linke Kante und zudem systemweit. Auch das ist ziemlich praktisch, da man so schnell häufig genutzte Apps starten kann, ohne einen Umweg über den Application Scope gehen zu müssen. Ebenfalls sehr gut umgesetzt sind die Indicators am oberen Rand des Displays, sodass man schnell und mit wenigen Tastendrücken an die entsprechenden Einstellungen kommt.

Meiner Meinung nach sind die Gesten allgemein eine gute Idee. Um Ubuntu Touch allerdings anständig bedienen zu können, braucht man schon etwas Übung. An vielen Ecken des Systems muss man nämlich aufpassen, dass man nicht aus Versehen eine Geste auslöst. Häufig passiert das beispielsweise in der Galerie-App. Wenn man dort von Bild zu Bild wischt, muss man stets aufpassen, dass man seinen Finger nicht zu weit an den Rand des Displays legt, sonst wechselt man zwischen den laufenden Apps.

Innerhalb von Apps gibt es die Geste von der unteren Kante, hinter dem sich einige weitere Optionen verstecken. Das „Verstecken“ ist hier wörtlich zu verstehen, da die wenigsten Benutzer auf Anhieb diese Leiste von sich aus gefunden und geöffnet haben. Die Wischgeste an diesem Punkt ist etwas „hakelig“. Es passiert eher selten, dass man diese Geste aus Versehen ausführt. Unter dieser Leiste befinden sich je nach Anwendung verschiedene Punkte. Häufig ist dabei dort der „Zurück“-Button versteckt. Wenn man also etwas tief in den Systemeinstellungen ist, braucht man eine Geste sowie eine Klick auf den Button, um einen Schritt zurück zu gehen. Das ist viel zu umständlich, da man recht häufig nur einen Schritt zurück möchte. Aktuell lässt sich das also nur umständlich lösen. Warum man sich hier keine weitere Geste einfallen lassen hat, ist fraglich. Praktisch wäre es auf jeden Fall.

Ein System für Alles

Unity ist nicht nur der Name der Desktop-Oberfläche von Ubuntu. Wörtlich lässt sich Unity mit „Eins“, „Einheitlichkeit“ oder auch „Einigkeit“ übersetzen. Der Name wurde von Canonical nicht ohne Grund so gewählt, denn Unity – und somit Ubuntu – soll ziemlich einheitlich auf jeder Art von Gerät laufen. Zu Beginn war dies natürlich der normale Desktop-PC sowie Laptops. Mit Ubuntu Touch soll es die passende Variante für Touchscreens auf Tablets und Smartphones liefern. Zusätzlich wurde Anfang 2012 Ubuntu TV angekündigt, wirklich viel hörte man danach allerdings nicht mehr über Ubuntu auf dem Fernseher.

Das ganze warf schon häufig die Frage auf, ob ein System für alle Geräte überhaupt sinnvoll ist. Meiner Meinung nach hat eine durchgängige Nutzung von Unity auf verschiedenen Geräten schon Vorteile. In der Theorie muss sich ein Benutzer an Unity nur an einem Gerät gewöhnen und hat dann keine größeren Probleme Unity auf anderen Geräten zu verwenden.

In der Praxis sieht das allerdings anders aus, vor allem in Hinblick auf Ubuntu Touch. Die Bedienführung zwischen dem normalen Unity und Unity auf Ubuntu Touch ist schon sehr unterschiedlich. Einzig das Look&Feel ist dabei sehr ähnlich. Vorteile hat dies allerdings schon, da sich ein Benutzer durchaus „heimisch“ fühlt, weil die Optik durchgehend gleich aussieht.

Eine Anpassung von Unity auf die verschiedenen Geräte ist essentiell. Niemand möchte schließlich ein Desktop-Betriebssystem auf Touch-Geräten benutzen oder umgekehrt. Canonical kann durch den geräteübergreifenden Einsatz von Unity einige Vorteile einspielen, da man Dienste wie „Ubuntu One“ überall zur Verfügung hat und man fix von einem Gerät auf das andere wechseln kann. Das Potenzial wäre zumindest in der Theorie gegeben.

In der Praxis sieht das aktuell leider nicht ganz so rosig aus. Ubuntu TV wurde zwar vor über anderthalb Jahren angekündigt, allerdings hört man davon fast nichts mehr. Eingestellt wurde es offiziell nie, große Neuigkeiten wurden in den letzten Monaten allerdings auch nicht veröffentlicht. Ähnliches gilt dabei auch für „Ubuntu for Android“, welches ebenfalls zwar ein ambitioniertes Projekt ist, aber man immer noch nicht weiß, wie es da weiter geht. Mit über 500 Mitarbeitern 🇬🇧 hat Canonical verglichen zur Konkurrenz von Microsoft, Google und Apple, wenig Mitarbeiter. Bei dem Release von Saucy Salamander lag der Fokus klar auf mobilen Geräten, denn größere Änderungen gab es in der Desktop-Ausgabe von Ubuntu nicht.

Canonical läuft meiner Meinung nach Gefahr, den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren. Mit Ubuntu TV und Ubuntu for Android gibt es aktuell ziemlich viele Baustellen, die zwar gestartet, aber dann wohl wieder nach hinten geschoben wurden. Zudem wurde häufig die Basis von Unity selbst gewechselt. Erst GTK mit Compiz sowie zusätzlichem Unity 2D auf Qt-Basis als Fallback-Lösung für Rechner ohne 3D-Grafik-Unterstützung. Letztere wurde dann doch eingestellt. Unity 8, welches bereits auf Ubuntu Touch läuft, soll dann bald auch auf dem Desktop laufen, welches dann wiederum wieder auf Qt und QML setzt. Eine durchgehend durchdachte technische Basis sieht anders aus.

Akzeptanz

Ein wichtiger Punkt im Hinblick auf den Massenmarkt ist die Akzeptanz. Ein Otto-Normalverbraucher wird sich eher weniger dafür interessieren, welches System im Hintergrund läuft. Denn für diesen Benutzer ist die Hauptsache, dass es funktioniert. Die Frage ist nur, ob ein solches System, welches grundsätzlich mit Gesten bedient wird, von den Otto-Normalverbrauchern angenommen wird. Ich kann mir gut vorstellen, dass Ubuntu Touch für viele normale Benutzer zu Beginn viel zu kompliziert zu bedienen ist, weshalb die Gesten eher abschreckend wirken könnten.

Ein weiterer Punkt ist zudem die Verfügbarkeit von Apps. Diese ist aktuell sehr dünn und viele von den vorhandenen Apps sind noch unangepasste Web-Apps, die sich nicht in das System einfügen. Hier muss man auf jeden Fall abwarten, wie hoch die Akzeptanz unter den Entwicklern ist. Populäre Apps und Spiele, wie z.B. Angry Birds oder Google Apps oder anderer größeren Entwicklerteams dürfte man in naher Zukunft eher nicht erwarten.

Canonical und die Community

Weiter oben in diesem Kwami habe ich das Thema schon leicht angeschnitten, nämlich die aktuelle Situation bei Canonical im Hinblick auf den Schwerpunkt. Zur Zeit sieht es so aus, dass Canonical einen großen Fokus auf Ubuntu Touch legt. Einige Canonical-Mitarbeiter arbeiten daher hauptsächlich nur an Ubuntu Touch. Die Core & System Apps sind aktuell fast ausschließlich von Canonical-Mitarbeitern geschrieben worden. Eine gute Einbindung der Community, wie es etwa beim Desktop der Fall ist, ist nicht wirklich zu erkennen.

Dies kann mehrere Gründe haben: Canonical entwickelt in letzter Zeit häufiger einige Ideen hinter verschlossenen Türen und öffnet sich erst spät in der Entwicklung. Dies war auch bei Ubuntu Touch der Fall. Weiterhin kommt die Einführung von Mir statt Wayland hinzu sowie die plötzliche Integration der Amazon Shopping Lense. Ich persönlich finde die Ideen und Konzepte von Ubuntu Touch gut. Mitarbeiten würde ich an Ubuntu Touch allerdings nicht, da Canonical mir persönlich zu viel hinter den Türen entwickelt und somit die nötige Transparenz fehlt.

Weitere Nachteile wie das Unterzeichnen von Lizenzvereinbarungen (CLA) kommen dann noch hinzu. Canonical ist aktuell stark bemüht, die Community stärker einzubinden. Denn ohne eine beitragenden Community ist es sehr schwierig, im hart umkämpften Mobilmarkt Fuß zu fassen. Eine Bemühung 🇬🇧 ist etwa die Erstellung einer Open-Source-App für den Notizverwaltungsdienst von Evernote. Canonical muss aber auf jeden Fall weiter versuchen die Community stärker in das Projekt einzubinden. Denn ohne Community wird es sehr schwierig.

Mobile Konkurrenz

Auf dem Markt für mobile Systeme hat Ubuntu Touch große Konkurrenz. Android und iOS dürften die am weitesten verbreiteten Systeme sein, gefolgt von Windows Phone. Für den Anfang steht Ubuntu Touch wohl eher in Konkurrenz mit den neuen, kleinen Systemen. Dies wäre vor allem Firefox OS, wovon es schon einige wenige Geräte auf dem Markt gibt. Weiterhin erscheint bald das erste Smartphone von Jolla, welches Sailfish OS nutzt. In Entwicklung befindet sich zudem noch Tizen 🇬🇧, welches von der Linux Foundation, Intel und Samsung vorangetrieben wird. Tizen ist zum aktuellen Zeitpunkt allerdings noch weit vom produktiven Einsatz entfernt. Firefox OS hingegen ist durchaus nutzbar, richtet sich allerdings vor allem an Benutzer mit leistungsschwachen Geräten. Ubuntu Touch wird es hingegen schwierig haben, sich gegen die starke Konkurrenz durchzusetzen. Die Marktausrichtung ist hier explizit auch auf High-End Geräte bezogen, also nicht so wie es bei Firefox OS der Fall ist.

Fazit

Ubuntu Touch kommt mit interessanten und auch guten Ideen für die Bedienung daher. Die Umsetzung ist für deren frühes Entwicklungsstadium einigermaßen gut, enthält aber noch zahlreiche Fehler und es fehlen bekanntlich sehr viele Funktionen. Die aktuell „stabile“ Version kann man allerdings nicht wirklich im (ernsthaften) Produktivbetrieb einsetzen.

Eine große Marktdurchdringung ist generell sehr schwierig. Für den Anfang ist es wichtig, dass Canonical mehr freiwillige Benutzer einbringt, die man vor allem nicht vergraulen darf.

Wichtig ist zudem, dass der Desktop-Modus von einem Ubuntu-Touch-Gerät implementiert wird, sodass man automatisch einen Ubuntu-Desktop bekommt, wenn man das Smartphone an eine Docking-Station anschließt.

Bis Ubuntu Touch also für einen „Otto-Normalverbraucher“ sinnvoll brauchbar ist, kann und wird noch viel Zeit vergehen. Anfang nächstes Jahr sollen allerdings auch erste Geräte mit Ubuntu Touch ausgeliefert werden. Ob diese Geräte dann produktiv nutzbar und auch gut sind, wird man sehen. Bis es soweit ist, heißt es also abwarten und Tee trinken.

Über den Autor

Sujeevan Vijayakumaran, welcher hier unter dem Nickname svij anzutreffen ist, spielt sehr gerne mit Smartphones und Tablets herum. Bei der diesjährigen Ubucon hielt er einen Vortrag über Ubuntu Touch. Nebenbei ist er auch Mitglied der Projektleitung von ubuntuusers.de. Bei der OpenRheinRuhr in Oberhausen, die am 9. und 10. November 2013 stattfindet, ist er am Ubuntu-Stand mit zwei Ubuntu-Touch-Geräten zu finden.